Seymour

Er ging über die Regenbogenbrücke und mit jedem Schritt fiel das Alter, die Krankheit, die Schwäche von ihm ab. Mit jedem Schritt wurde sein Fell wieder weißer, der Flecken auf seinem Kopf wieder braun, die blauen Augen sanft, die rosa Öhrchen wieder jung. Sein Hinken verschwand. Sein dürrer alter Körper wieder jung und kräftig. Das ist das Wunder des Landes hinter der Regenbogenbrücke. Das Land hinter dem Tod.

Seine Pfoten berühren grünes Gras. Der Himmel über ihm ist himmelblau mit leichten weißen Wolken, die sanft über das Firmament schweben. Die Luft riecht herrlich. Vögel zwitschern, Schmetterlinge schwirren, Fische springen in Bächen. Er bleibt stehen, schaut sich um. Fühlt sich in seinem alten neuen Körper. Einen Körper, der ihm vertraut vorkommt, auch wenn er ihn, so jung, seit Jahren nicht mehr gespürt hat.

Na alter Kerl? Bist Du nun auch da? Hast Dir aber viel Zeit gelassen. Die Stimme die in seine Ohren fährt ist wie ein Fingernagel der über eine Schiefertafel fährt. Der Sprecher – er kennt ihn – ein gestreifter Kater – ein Ohr zerfetzt, das andere verkrüppelt, Sabber aus dem schief stehenden Maul tropfend, die O-Beine fest in den Boden gerammt, gelbe gnadenlose Augen fixieren ihn.

Hallo sagt er – ich musste kommen – meine Zeit war vorbei. Die – die Stimme immer noch kratzig – ist immer irgendwann vorbei. Aber – er schluckt – sie hätte noch nicht vorbei sein sollen. Der gestreifte fixiert ihn mit den gnadenlosen Augen – wann – so fragt er – die Stimme kratzt und zerrt an den Nerven – hätte sie denn vorbei sein sollen – Deine Zeit?

Sie sitzen da – 2 Kater – einer weiß und groß – nun wieder jung. Sanftes Wesen. Der andere gestreift mit weiß – ein Wesen wie eine Brechstange. Sitzen da und schauen auf die Welt der Lebenden. Sehen dort einen Menschen, gramgebeutelt. Weinend um ihn, der gegangen ist. Darum – sagt der weiße Kater – darum hätte sie nicht vorbei sein sollen – meine Zeit.

Der gestreifte schaut den Menschen an – wenn es möglich ist – überschattet Mitleid die gnadenlosen Augen – Mitleid mit dem Menschen den er da sieht. Die Frau die da – so sagt er – und meint den weinenden trauernden Menschen – wird es verstehen. Die Zeit kommt und die Wunde wird heilen. Und dann wird sie sich an Dich erinnern ohne Schmerz – mit Freude. So wie sie sich heute an mich erinnern kann, ohne Schmerz – mit einem Lächeln im Gesicht.

Der weiße Kater schaut auf die Welt – glaubst Du das wirklich? Fragt er den Gesellen neben sich. Die gelben Augen nun in die blauen des weißen gerichtet antwortet dieser – ja – das weiß ich. Sie hat mich gebeten, dass ich Dich in Empfang nehme und mich um Dich kümmere. Ich wüsste ja, wie Du bist. Er grinst über das schiefe Maul hinweg. Sie liebt Dich wie sie mich liebt. Und das wird über den Tod hinaus so sein. So, wie wir sie lieben, über den Tod hinaus – in dieser Welt außerhalb des Lebens.

Komm – sagt der gestreifte – einen letzten Blick auf den Menschen – seiner Frau die – wie er sie zu Lebzeiten nannte – gehen wir. Hier gibt es genügend andere Katzen, die wir ärgern können. Er grinst über das gestreifte Gesicht. Mit einem letzten Blick auf seinen weinenden Menschen den er verlassen musste – folgt der weiße Kater. Wir werden – so der gestreifte etwas milder – ein Auge auf sie haben. Wir achten auf sie. Und irgendwann – das kannst Du mir glauben – wird sie uns sehen – weil ihr Schmerz nachlässt und sie hören und sehen kann.

Tage vergehen, Wochen, Monate – der Schmerz kommt in Wellen. Die Trauer, der Verlust, die Leere. Tränen gibt es kein mehr. Sie sind alle geweint. Warum nur? Was hätte ich tun können? Was wäre wenn ich besser gewesen wäre? Ich hätte mehr tun müssen. Mehr da sein müssen. Mehr von allem sein müssen. Ich reichte nicht – und nun ist er tot – und ich kann nichts mehr tun. Alle Chancen vertan. Der Mensch weint – versinkt im Schmerz. Trauert. Es tut nur weh. Mitten in der Brust klafft ein riesiges blutendes Loch.

Ein sonniger Tag. Ein Kajak auf dem See. Die Paddelschläge klingen leise. Das leise Rauschen der Wellen gegen den Bug des Bootes. Der Himmel blau mit einer milden Sonne. Der Mensch lässt sich treiben – Wind auf seiner Haut. Die Hände im Wasser welches kühl und angenehm ist. Er beginnt nach Wochen des Schmerzes über den Schmerz hinweg, an ihm vorbei, die Ruhe zu hören die ihn umgibt – die Schönheit zu sehen – die um ihn herum ist. Und dann?

Dann hört er sie – eine sanfte Stimme – Hallo Frauchen – ich bin hier – ich bin da – ich bin nicht weg – nur an einem anderen Ort. Und dann – die Stimme – wie ein Fingernagel über eine Schiefertafel – hey Du Frau Du – wie geht es Dir denn so? Und als die Tränen fließen – einen Regenbogen bilden durch die Sonne – sieht sie hinter diesem Regenbogen an einem Ort so schön – 2 Kater sitzen. Einer weiß mit rosa Öhrchen und blauen sanften Augen – der andere gestreift mit ungnädig gelben Augen.

Die Tränen die nun kommen sind Erleichterung. Keine Trauer mehr. Heilung und Freude, dass es sie gab. Dass sie sie kennen durfte. Und ein Wissen, dass sie obwohl nicht mehr da, nicht weg sind.

Der Mensch sitzt in seinem Boot – der Regenbogen vor ihm – schaut die 2 Tiere an – ich liebe euch so sehr. So sehr.

(Gedenken an Seymour - 17 Jahre begleitetest Du mich, und Erinnerung an das Streifentier - vor 7 Jahren gestorben - zu mir als Streuner gekommen)